Das Swerdlowsker Gebiet ist eines der am stärksten durch die HIV-Infektion betroffenen Gebiete Russlands. Die Ärztin Marina und ihre Mitarbeiterinnen der Stiftung “ Neue Zeit“ kämpfen mit kreativen Prophylaxe-Programmen gegen AIDs und Tuberkulose. Im benachbarten Suchoj Log unterstützt die Sozialarbeiterin Vera HIV-infizierte Frauen mit Kindern. Der Freundeskreis unterstützt beide seit Jahren. Gudrun und Karl Wolff besuchten sie auf ihrer Reise durch den Ural.

Drogen, AIDS und HIV

Nach Meinung von Experten sind 2-3% der Bevölkerung des Swerdlowsker Gebiets HIV- infiziert. 2008 wurden 38 550 Fälle registriert, 4808 mehr als im Jahr davor. 53% wurden durch intravenösen Drogengebrauch infiziert, bei 440 Kindern wurde das Virus durch ihre Mütter während der Schwangerschaft und Geburt übertragen. 3 947 der Infizierten starben, davon 21,5 % an Aids, 12% an Tuberkulose. Das Swerdlowsker Gebiet ist eines der am stärksten durch die HIV-Infektion betroffenen Gebiete Russlands.
Die erste Drogenwelle war wie eine Explosion, sagt Elja, die es wissen muss.

Marina Wladimirowna Chalidowa

Auf einer allrussischen AIDS-Konferenz wurden neue Methoden der Bekämpfung des Virus und der Verbreitung von AIDS vorgestellt, aber die Leitung des AIDS-Zentrums in Jekaterinburg beschloss, dass diese für sie nicht umsetzbar seinen. Mit dieser hilflosen Entscheidung fand sich Tuberkuloseärztin Marina Chalidowa nicht ab.   Aufgrund ihrer Erfahrung als Psychologin und als Narkologin war sie überzeugt, dass man Prophylaxe-Programme gegen Aids auch im Gebiet Swerdlowsk durchführen kann und muss.  Bestärkt wurde sie durch die „Ärzte ohne Grenzen“, die nach Jekaterinburg kamen und Fortbildungen zur AIDS-Prophylaxe anboten.

„Neue Zeit“

Gegen die Hierarchie des AIDS-Zentrums waren ihre Ideen nicht durchzusetzen. Sie suchte neue Wege. Zusammen mit drei gleich gesinnten Ärztinnen und einer Ökonomin entschied sie sich für die Gründung einer Nichtregierungsorganisation. Auf dieser Basis konnte sie unabhängig agieren. Zunächst ehrenamtlich, versteht sich. 1999 haben die Gründerinnen – wo sind eigentlich die Männer in diesen sozialen Ehrenämtern? – die Stiftung „Neue Zeit“[1] registrieren lassen. „Die neue Zeit hat uns mit vielen Problemen überrollt“, sagt Marina, „Drogen, AIDS, Kriminalität. Zu den positiven Seiten gehört die Möglichkeit, NGO´s zu gründen und als Individuum Initiativen zu ergreifen. Früher war alles staatlich.“

Prophylaxe-Programmen gegen AIDS

Seit elf Jahren kämpfen die Mitarbeiterinnen der Stiftung mit kreativen Prophylaxe-Programmen gegen AIDS und Tuberkulose. Ihre  begrenzten Kapazitäten konzentrieren sie auf  einige besonders gefährdete und diskriminierte Gruppen. Dazu gehören Frauen und Kinder,  die HIV-positiv sind. „Frauen, die Drogen nehmen, werden stärker diskriminiert als Männer. Die HIV-infizierte Frau ist in allen sozialen Bereichen verletzbarer als der Mann. …. 

Problemzonen

Besonders gefährdet  sind HIV-positive  Frauen in den – wie man auf russisch euphemistisch ausdrückt – Orten des Verlustes der Freiheit. Nach Angaben der  Medizinverwaltung des Gebiets Swerdlowsk sind mehr als 3500 Gefangene HIV-positiv, davon 507 Frauen. Seit acht Jahren arbeiten Sozialarbeiterinnen und Psychologinnen des Fonds in Frauengefängnissen und bereiten sie  mit speziell dafür ausgearbeiteten sozialpsychologischen Modellen auf ihre Integration in die Gesellschaft vor….


[1] Seit 2017 muss sich die Stiftung als „Ausländischer Agent“ bezeichnen.

Suchoj Log.[1]  „Neue Zeit“  in der Provinz

…Vera, gelernte Sozialarbeiterin, hat im Auftrag der Zentrale der Stiftung in Jekaterinburg vor drei Jahren mit dem Projekt «Unterstützung für HIV-infizierte Frauen mit Kindern» angefangen. Die HIV-Infektion ist damals epidemieartig angestiegen. 50 Prozent der HIV-infizierten haben Tuberkulose.

ökologische Situation

Darüber hinaus gibt es in der Stadt viele an Tuberkulose Erkrankte, nicht aufgrund einer HIV-Infektion, sondern aufgrund der katastrophalen ökologischen Situation. «Wir haben hier, um nur die schlimmsten zu nennen, eine Asbestzementfabrik, eine Buntmetallfabrik und dreißig Kilometer von uns entfernt die Atomanlage Belojarka. Wir haben auch radioaktive Strahlung.»  Deshalb bieten Vera und ihre Mitarbeiterinnen zusätzlich eine Tuberkulose Prophylaxe für Männer und Frauen an. Einfach ist das nicht. Die Männer kommen bisweilen völlig stoned an und das Zentrum liegt am gottverlassenste Rand der Stadt. 

Unwissenheit ist das größte Problem, Aufklärung die wichtigste Aufgabe Veras und ihrer Mitarbeiterinnen. «Die meisten wissen nicht, was eine HIV-Infektion ist». …

Natascha

Natascha, HIV infizierte Mutter von fünf Kindern klärt radikal auf.  Die Broschüren aus dem Zentrum hat sie mit nach Hause geschleppt und einen Sack voller Präservative. „Mama, was soll das?“, sagten ihre Söhne.  „Die sind für euch, probiert sie aus. Übt schon mal, damit das später funktioniert.“ Jetzt spielen die Jungs in Nataschas Haus mit bunten Präservativen, blasen sie auf zu Luftballons, benutzen sie als Fletsche und probieren andere Dinge aus. „Lustig ist es bei uns zu Hause“, sagt Natascha lachend. Und das, obgleich die Angst vor der Krankheit wie die Krankheit selbst nie vergeht.


[1] Suchoj Log liegt ca 100 km östlich von Jekaterinburg